Montag, 20. August 2007
27 Stunden Schmerz
Am 14. August um zehn Uhr und 23 Minuten hätte ich beinahe einen Chinesen aus dem fahrenden Zug geworfen. Oder zwei. Zu dem Zeitpunkt erschien es meinem gehirngewaschenem Kopf eine sinnvolle Idee. Stunde 27 der Zugfahrt von Beijing nach Guilin war zur Hälfte um, das heißt mehr als 26 ausgesessene Stunden mit viel Geschrei, Stapelsitzen, Kerneknackerei und angestarrt werden lagen hinter uns.

Den Anfang einer entspannten Woche in der Natur hatten wir uns irgendwie anders vorgestellt – entspannter vielleicht. Der Stress ging schon los, als ich quer durch Peking getourt bin, um Tickets für den Schlafwagen zu bekommen. Keine Chance, nicht in zehn Tagen. Da wir uns die als Paradies gepriesene Gegend um Guilin aber auf keinen Fall entgehen lassen wollten, nahm das Unglück seinen Lauf: Ich kaufte zwei Hard-Seater-Tickets. Das bedeutet Sitzen im rechten Winkel, Sitzflexibilität gegen Null, dafuer viel Körperkontakt und das Ganze für 27 Stunden ohne Unterbrechung oder Ruhepause.



Was wir beim Ticketkauf noch nicht wussten war, dass auch mehr als genug Leute Stehplätze gekauft hatten. Füße vertreten Fehlanzeige. Außerdem nutzten sie verständlicherweise jede Gelegenheit, wenigstens kurz zu sitzen. Ich war aber schon ein bisschen irritiert, als ich vom Bad zurück kam und auf meinem Platz eine kleine Frau schlief, die sicher jenseits der 70 war. Tja, was macht man da außer zu warten, bis sie wieder wach wird und zu hoffen, dass sie den Platz freiwillig freigibt (denn wer will schon einer alten Frau sagen, dass sie sich doch bitte wieder in den Gang stellen soll).

Auf so einer Zugfahrt lernt man eine Menge über sich selbst. Ich bin zum Beispiel überraschend flexibel, was die hygienischen Umstände betrifft. Meine Grenzen sind aber in folgenden Fällen überschritten:
1. Wenn ein Minimum an Privatsphäre nicht gegeben ist (das beinhaltet 40 Zentimeter unantastbare Sitzfläche und nicht ununterbrochen beguckt und fotografiert werden wie ein besonders seltenes Exemplar im Zoo - beim Essen, Schlafen, aufs Klo gehen). 2. Wenn NIE und in keiner Sekunde Ruhe herrscht, auch nicht nachts (das würde nämlich lautes Geschrei aus unersichtlichem Grund um drei Uhr Früh und das Kinderspiel „Ich-kloppe-mit-einer-Pfandflasche-auf-ein-Metalltablett-ein“ ausschließen).

Endstation Natur

Ende gut, alles gut – Yangshuo entschädigt für alle Strapazen der Anreise. Ich war ein bisschen misstrauisch ob der ganzen hübschen Postkartenfotos der Region. Es hätte mich nicht gewundert, gäbe es hier genau drei Karstberge, die aus allen erdenklichen Perspektiven fotografiert und per Photoshop vervielfacht wurden. Aber auf der 60-Kilometer-Busfahrt von Giulin nach Yangshuo reichen sie, soweit man schauen kann. Und der Ausblick aus unserem Zimmer ist schon fast unverschämt.



Nach fünf Wochen Peking ist es richtig schön, in der Natur zu sein. Die Atmosphäre in Yangshuo ist extrem entspannt und ein durchschnittlicher Tag hier besteht aus leckerem Essen, durch den Ort flanieren und die größte Herausforderung ist schon die Auswahl der Kneipe für den Abend.

Weil wir uns als Touristen aber auch unserer Pflicht bewusst sind (Volkswirtschaft stärken durch Investitionen in Souvenirs, Eintrittsgelder und Tourengebühren), hatten wir uns für Freitag den Wecker auf fünf Uhr gestellt, denn um sechs sollte die Fahrt los gehen Richtung Li Jiang Flussfahrt.

Cowboy mit offener Hose

Besonders toll war, dass uns so viel vom Tag blieb. Wieviel ahnten wir noch nicht. Erstmal wurden wir in einem überbesetzten Bus (Conny und ich bekamen Plastikhocker, um es uns im Gang gemütlich zu machen) in ein Kaff gefahren, wo wir in so eine Art Golfplatzauto umsteigen mussten, das wie sich herausstellte viel geländetauglicher war, als es aussah.

Mit dem Boot samt chinesischer Reiseleitung gings dann ein Stück den Fluss runter. Alle paarhundert Meter erklärte der Fahrer irgendwas zu einem der Berge, ein Raunen ging durch die Chinesen, alle sprangen auf (Achtung, Schieflage) und fotografierten. Ich fotografierte vorsichtshalber auch, man weiß ja nie.



Nach vielleicht 20 Minuten hielten wir auf eine große Kiesbank am Ufer zu und ich ahnte schon Schlimmstes angesichts der bunten Schirmchen, die ich von weitem sah. Alle aussteigen, Souvenirs gucken und vielleicht einen Flusskrebsspieß auf die Hand (war ja auch schon fast acht). Bei der fotografischen Dokumentation dieser Szenerie geriet mir ein alter Mann mit einem großen und einem kleinen Wasserbüffel vor die Linse.

Unglücklicherweise ist ihm das nicht verborgen blieben, also ritt er in bester Marlboro-Cowboy-Manier zu mir rüber und ehe ich fliehen konnte hatte er meinen Arm gepackt und forderte zwei Yuan für das Foto. Abgesehen davon, dass der Alte deutlich mehr Kraft hatte, als er aussah und mir der Daumenabdruck noch einen Tag erhalten blieb, stand sein Hosenstall sperrangelweit offen und die besten Zähne hatte er auch nicht – sprich, ich hätte ihm gerne zwei Yuan gegeben. Hatte aber keine. Conny hat mich schließlich aus der misslichen Lage befreit und einen Zehner geopfert. Rausgegeben hat der Cowboy natürlich nicht, aber für die Riesensumme hat er dann zwei Extrarunden für uns gepost.



Um zehn Uhr waren wir zurück im Hostel und konnten den Tag wie gewohnt weiterführen: flanieren, essen, Scherenschnitte ausschlagen. In jedem Touristenort in China gibt es ein paar Besonderheiten an Souvenirs. In Yangshuo sind das selbstbemalte Textilien (zum Beispiel Stoffschuhe mit Snoopy oder Harry Potter oder T-Shirts mit Osama Bin Laden, Hitler oder Beckham).

Außerdem gibt es mindestens einen selbstständigen und vermutlich hauptberuflichen Scherenschnittmacher. Der junge Mann rennt den ganzen Tag durch den Ort und scherenschneidet Touristen, die gerade irgendwo sitzen und essen. Uns hat der Gute dreimal geschnitten, bevor ers drangegeben hat.

In Guilin trägt der örtliche Scherenschnittmacher Hosen mit großen roten Punkten und arbeitet auf einem Berg der Kategorie AAAA (je mehr A´s, desto wichtiger ist die Sehenswürdigkeit aus Sicht der Chinesen, die so was klassifizieren). Vielleicht spekuliert er mit der Wirkung des Sauerstoffmangels auf die Zurechnungsfähigkeit der Touristen, die sich bei 40 Grad und Sonnenschein dort hochquälen.

In Guilin verbringen wir die drei Tage vor der Weiterfahrt nach Shanghai. Nach einer ziemlichen Zitterpartie beim Ticketkauf (das Geld wurden wir schnell los, die Tickets ließen etliche Tage auf sich warten) freuen wir uns jetzt auf die Fahrt im Hard-Sleeper-Abteil. Freundlicherweise haben die Menschen, die die Tickets gegen Gebühr für uns besorgt haben, nach eigener Auskunft alles getan, um uns zwei Betten ganz oben im Abteil zu kaufen. Wie unsere Reise auf Höhe der Gepäckablage gelaufen ist, gibt’s dann demnächst hier zu lesen.

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